Albtraum finanzielle Freiheit?

Ich bin nicht der Einzige, der sich die finanzielle Freiheit zum Ziel gesetzt hat. Diverse Blogs, YouTube-Kanäle und Bücher zum Thema, belegen dies deutlich. Jedoch verhält es sich mit den meisten Zielen so, dass sie, wenn man sie erst einmal erreicht hat, gar nicht mehr so erstrebenswert erscheinen. Wäre das bei der finanziellen Freiheit auch so? Höchste Zeit, den Gedanken einmal durchzuspielen.

Tag 1 in der finanziellen Freiheit

Einfach herrlich, erst um 10:30 Uhr aufzustehen! Jetzt aber schnell duschen und für die Arbeit fertig machen. Ach nein, Ich hatte ja vergangenen Freitag gekündigt und bin seit dem von der Arbeit freigestellt. Warum also die Eile? Statt unter die Brause zu springen nehme ich ein ausgiebiges Bad, trinke während dessen meinen Kaffee und lese ein paar Seiten „Sorge dich nicht – lebe!“.

So viele Dinge sind in meinem Arbeitsleben zu kurz gekommen. Reisen, der Freundeskreis, die Familie und Hobbies. Es gibt viel nachzuholen. Womit fange ich an? Am besten mit den Hobbies. Jetzt muss Sport getrieben werden. Es gibt keine Ausreden mehr. Ab ins Gym und eine Mitgliedschaft abschließen.

Nach diesem intensiven Workout brauche ich dringend eine Stärkung. Mit den Kollegen zu Mittag essen, das gehört nun ja der Vergangenheit an. Endlich mal seine Ruhe beim Essen und nicht ständig das Geläster über die Kollegen. Also hole ich mir schnell einen Döner um die Ecke – keine Lust für mich allein etwas zu kochen.

Den Rest des Tages habe ich irgendwie im Netz vertrödelt. Ich wollte doch nur kurz nach meinem Depot schauen. Doch dann folgte ein Link dem anderen. Ich bin – gefühlt – bis zur letzten Seite des Internets gekommen.

Tag 11 in der finanziellen Freiheit

Die Idee, unter der Woche meine Freunde zu besuchen, funktioniert leider nicht wie erwartet. Klar, sie müssen tagsüber arbeiten, aber auch nach Feierabend haben sie nie Zeit. Eigentlich hätte mir das klar sein müssen, früher haben wir uns auch nur an den Wochenenden getroffen.

Also war die Verwandschaft dran. Nächste Woche noch mein Onkel mütterlicher seits und dann bin ich damit erstmal durch. Reicht auch für dieses Jahr. Im Gegensatz zu den Freunden, sucht man sich die Verwandschaft eben nicht aus.

Tag 24 in der finanziellen Freiheit

Als Ankerpunkt meines Tagesablaufs hat sich das tägliche Training im Gym herausgestellt. Wenn das nicht wäre, wer weiß wie lange ich dann im Bett liegen würde. Ohne einen triftigen Grund zu einer bestimmten Uhrzeit aufzustehen, das ist irgendwie nicht mein Ding.

Ich verbringe inzwischen viel Zeit mit dem Lesen von Büchern. Ich lese parallel einen Ratgeber für Dividendenaktien und einen SciFi-Roman. Insgesamt zwei bis drei Stunden am Tag. Das genügt mir voll und ganz, schließlich haben Netflix, Disney+ und Amazon Prime ja auch noch einiges an Unterhaltung zu bieten.

Tag 51 in der finanziellen Freiheit

Bei schönem Wetter habe ich das Lesen in den Stadtpark verlegt. Das hat mir die Freude am Lesen wieder ein Stück zurückgebracht.

Mittlerweile hat sich mein Freundeskreis etwas reduziert. Viele sogenannte Freunde waren wohl doch mehr Arbeitskollege als Freund. Wenn man nicht den gleichen Job teilt, bleiben oft nicht viele Gemeinsamkeiten übrig. Die Bekanntschaften im Gym sind leider nur flüchtig. Außer dem Sport, habe ich mit den Mitgliedern dort nicht viel gemeinsam. Ich denke, im muss noch mehr unter Leute, um nicht langsam sozial zu verkümmern.

Tag 222 in der finanziellen Freiheit

Mein erster Urlaub in der finanziellen Unabhängigkeit. Ich mache zwei Wochen Camping in den Bergen. Alles schön einfach und puristisch. Zugegeben, ein gutes Hotel wäre mir auch zu teuer gewesen. Ohne einen sparsamen Lebensstil würden die Erträge meines Depots nicht genügen. Wer weiß schon wie alt ich noch werde. Wenn’s über 90 Jahre werden, wird’s echt eng. Zumal die private Krankenkasse mich doch teurer kommt, als ich es mir ausgerechnet hatte. Wieder mal das Kleingedruckte nicht gelesen.

Tag 236 in der finanziellen Freiheit

Der Urlaub hat mir wirklich gut getan. Ich brauchte einen Tapetenwechsel, eine Abwechslung vom doch etwas dröge gewordenen Alltag.

Ich muss was ändern. Vielleicht meinen Tag strukturierter gestalten, meine Zeit besser nutzen. Ich wollte schon immer eine weitere Fremdsprache lernen. Morgen fange ich mit Französisch an!

Tag 277 in der finanziellen Freiheit

Nach wie vor gehe ich fünf mal in der Woche ins Gym. Ich erwische mich allerdings immer öfter dabei, wie ich mein Training emotionslos wie eine Maschine durchziehe. Ich bin fit und habe Kraft aufgebaut, mich zu motivieren fällt mir aber zunehmend schwerer.

Mein Lesepensum habe ich reduziert. Auch das Spazieren im Park ist nichts Besonderes mehr. Anscheinend kann man sich an alles gewöhnen, wenn man es nur eine Weile hat.

Anfangs lief der französisch-online-Kurs gut, inzwischen muss ich mich auch dazu zwingen.

Tag 364 in der finanziellen Freiheit

Seit fast einem Jahr kann ich meinen Lebensunterhalt nun durch passives Einkommen aus Dividenden decken. Somit kann ich beinahe jeden Tag so gestalten, wie es mir gefällt. Allerdings scheint es sich zu bewahrheiten, das der Mensch nicht gut mit zu viel Freiraum umgehen kann. Meinem Tag, meiner Woche und meinem Monat fehlt es an Struktur.

Auch musste ich feststellen, dass mein neuer Lebensstil nur zu den wenigsten meiner Mitmenschen passt. Zeiträume zu finden, wo man etwas mit Freunden unternehmen kann, war genauso schwer wie zuvor. Dafür wurden aber die Gemeinsamkeiten weniger. Der Gesprächsstoff ging uns oft aus und ich hatte so manches Mal das Gefühl, wir würden nicht mehr auf einer Wellenlänge liegen.

Leider haben mir auch die Dinge, nach denen ich mich so gesehnt hatte, nach einiger Zeit nur noch wenig Freude gemacht. Wie gerne wollte ich mehr lesen, regelmäßig trainieren, verreisen, spazieren gehen oder eine Fremdsprache lernen. Alles wurde viel schneller selbstverständlich, als ich es für möglich gehalten hätte.

Verdammt, ich suche mir jetzt einen Teilzeitjob… für den Anfang.


Ich denke, so oder so ähnlich könnte es einem in der finanziellen Freiheit ergehen. Natürlich habe ich mir hier nur eine von vielen Möglichkeiten ausgedacht. Allerdings halte ich es nicht für so unwahrscheinlich, dass die finanzielle Unabhängigkeit in Verbindung mit 100% Freizeit gar nicht so himmlisch ist, wie man es sich ausmalt.

Wie siehst du das? Findest du mein Szenario zu pessimistisch? Wie würdest du deine Zeit nach dem Arbeitsleben gestalten? Würdest du überhaupt früher in den Ruhestand gehen, sobald es dir deine Finanzen erlauben? Fragen über Fragen…

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11 Kommentare

  1. Sehr interessanter Artikel. Vielen Dank dafür.
    Ich denke viele haben als Motivation nicht „hin zu“, sondern „weg von“.
    Was am Ende genau zu so einer Zukunft führen könnte, wie du sie beschreibst. Man arbeitet so lange für die finanzielle Freiheit, dass man vorher vergisst sich zu fragen was man wirklich will. Die meisten wissen vermutlich mehr was sie nicht wollen, als das was sie wollen.
    Sich intensiv mit sich selbst auseinander setzen und wissen was man will, würde die finanzielle Freiheit obsolet machen. Ein Jobwechsel würde genügen.
    Finanzielle Unabhängigkeit ist ein Segen und erstrebenswert. Finanzielle Freiheit als Wunsch vielleicht nur ein Wink mit dem Zaunfall für ein heutiges Gefängnis.

    1. Hallo Tim,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Du beleuchtest da einen sehr interessanten Aspekt, über den ich so noch gar nicht nachgedacht hatte.
      Ich bin auch deiner Meinung, dass die finanzielle Freiheit ein lohnendes Ziel ist. Aus welchen Motiven man diese jedoch anstrebt, das sollte sich jeder fragen.
      Ich fürchte, meine eigene Situation muss ich auch mal neu einordnen. Objektivität ist da ja leider so gut wie unmöglich. Ich weiß aber so viel: Was ich heute habe (Familie, Selbsständigkeit, Einkommen, Wohnsituation), davon hätte ich vor 10 Jahren geträumt. Mein Verstand sagt mir, dass alles super ist, dennoch merke ich, wie sich eine gewisse Unzufriedenheit breit macht. Manchmal ist es echt nervig, dass man immer dem nächsten Hoch entgegenstrebt.

      Viele Grüße
      Mike

  2. Hallo Mike,

    Alles nicht so schlimm wie du glaubst. Tatsache ist, man ist nun mal gesünder seine finanzielle Unabhängigkeit mit 50 zu beginnen und zu genießen als mit 65 bis zur Rente/Pension zu arbeiten 😎

    Viele Grüße
    Bergfahrten

    1. Hallo Christian,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Einen so bekannten Finanzblogger wie dich hier begrüßen zu dürfen, freut mich besonders. 🙂 Ich folge dir, seit ich dein Interview beim Finanzrocker gehört habe.

      Jetzt aber zu deinem Kommentar:
      Von dir zu hören, dass man sich keine unnötigen Sorgen machen muss, macht Mut. Schließlich kannst du aus eigener Erfahrung sprechen. Du hast schon erreicht, was die Fans von F.I.R.E. anstreben.
      Sicherlich hast du es aber auch gemeistert, dein Leben mit neuen Projekten und Hobbys interessant und abwechslungsreich zu halten. Ich hoffe, dass mir das eines Tages auch so gut gelingt.

      Viele Grüße
      Mike

  3. Hallo Mike,

    Du hast bei dem Artikel eins sauber herausgearbeitet. Das Ziel finanzielle Freiheit ist im Grunde erst einmal klasse, aber immer bis zu Ende denken! Ob es dann auch das Ziel ist seinen Alltag zu ändern, ist nochmal eine ganz andere Sache. Es ist wie immer im Leben …. Der Mensch benötigt Beschäftigung und mit finanzieller Freiheit kann diese frei gewählt werden…
    P.S.: Ich würde nicht früher in den Ruhestand gehen, aber meinen Alltag gänzlich anders gestalten wollen und keinem Angestelltemverältnis mehr nachgehen. In diesem Sinne weiterhin viel Erfolg bei deinen Zielen, ich drücke dir die Daumen dafür!ich

    Grüße Heitinga

    1. Hallo Heitinga,

      vielen Dank für deinen Kommentar.

      Ich denke eigentlich nicht, dass es mir so ergehen wird, wie in diesen fiktiven Tagebuchauszügen angedeutet. Auf jeden Fall muss ich mir dann wieder neue Ziele stecken und einen ordentlichen Tagesrhythmus mit Ritualen und Routinen finden. Ich brauche das. 🙂
      Ich sehe es also wie du: Finanzielle Freiheit ist nicht gleich Ruhestand, zumindest nicht im Sinne von Nichtstun.
      Ich bin zwar kein Angestellter im klassischen Sinne, sondern Angestellter im eigenen Unternehmen (was einen klaren Unterschied zum reinen Unternehmer darstellt). Aus diesem „Arbeitsverhältnis“ will ich dann aber definitiv raus. Ich bin optimistisch, dass dieser Plan funktionieren wird.

      Viele Grüße
      Mike

  4. Jeder definiert ,,Finanzielle Freiheit“ anders, für mich ist das was die F.I.R.E. Bewegung repräsentiert z.b. keine Option. Meiner Meinung nach brauch jeder Mensch eine Aufgabe. Erkennt man daran wenn jemand nach 45 Jahre in Rente geht und sich nicht Zeitig um eine Beschäftigung (Hund, Verein etc..) gekümmert hat. Erlebe es leider sehr oft das viele Kerngesund in Rente gehen und in den ersten 5 Jahren in Rente dann sterben… Den Absprung rechtzeitig schaffen und auch daran denken was dann kommt, daran sollte man früh genug denken.

    Gleichzeitig fängt Finanzielle Freiheit auch schon viel Früher an als erst mit einem Depot von 500.000 € oder mehr Euro wie es oft bis zur letzten Kommastellen bei YouTube oder diversen Bloggern durchgerechnet wird.

    Für mich ist es schon eine Freiheit z.b. die Arbeitszeit zu reduzieren ohne mich aber gleichzeitig einschränken zu müssen. Jedenfalls ein sehr guter Beitrag !

  5. Hallo Roger,

    vielen Dank für deinen Kommentar.

    Ich habe auch schon gedacht, dass eigentlich auch jeder, der regulär in Rente geht, vor der gleichen Herausforderung steht wie jemand, der die finanzielle Freiheit früher erreicht. Ich sehe viele, die mit ihrem Ruhestand sehr gut zurecht kommen. Das sind in der Regel die, die weiterhin aktiv sind, eigene Hobbys und Projekte verfolgen, sich gemeinnützig einbringen (z.B. durch eine ehrenamtliche Tätigkeit) usw.

    Ich finde auch, dass allein der Punkt für die finanzielle Freiheit entscheidend ist, an dem man nicht mehr arbeiten müsste. Glücklich kann sich der schätzen, dem der Job so viel Spaß macht, dass er gerne weiter arbeitet. Und sei es bei reduzierter Arbeitszeit, wie von dir erwähnt.

    Was mich betrifft, ich hätte schon reichlich Pläne für diese Zeit. Manches davon mache ich bereits nebenbei, wie z.B. diesen Blog.

    Viele Grüße
    Mike

  6. Der Person im fiktiven Tagebuch fehlt es eindeutig an Eigeninitiative, um trotz weggebrochenem Arbeitsumfeld noch soziale Kontakte und sinnvolle Beschäftigung zu suchen.
    Ich persönlich wüsste genug zu tun und sei es, dass ich viel Computer spiele und versuche, Progamer zu werden oder anderweitig im eSports aktiv. Zudem würde ich ohne ablenkende Arbeit Sport und Ernährung professioneller angehen und mir größere Ziele dort setzen.
    Über das Internet kann man ja heute Kontakte aus der direkten Nachbarschaft knüpfen für gemeinsame Interessen und Beschäftigung.
    Mit unseren zwei Katzen würde ich auch mehr machen.
    Vllt. würde ich auch paar youtube Videos über getestete Hardware machen. Oder mein Gaming bei Twitch streamen. Oder einen Verein für Retrogaming gründen.
    Ideen und Pläne hätte ich viele, die zwar nicht sofort Geld bringen, aber mir Spaß machen. Nach dem Vollzeitjob fehlt dafür in der Regel die Zeit und Energie leider.

  7. Hallo elduderino,

    vielen Dank für deinen Kommentar.

    Na ja, ein paar Dinge packt diese Person ja schon an. Leider alles nicht mit dem nötigen Drive. Ich habe dieses mögliche Szenario so geschrieben, weil ich glaube, dass es verdammt vielen Leuten so gehen könnte. Ohne den Zwang, etwas zu tun – also den Job zu machen, weil man das Gehalt braucht – werden Einige nicht viel zustande bringen.

    Übrigens: Ich weiß ja nicht wie zeitraubend dein Vollzeitjob ist, aber die von dir genannten Beschäftigungen, könntest du auch jetzt schon am Feierabend oder an deinen freien Tagen vorantreiben.

    Viele Grüße
    Mike

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